Virtuelle Nähe – der entscheidende Faktor für die virtuelle Zusammenarbeit

Interview
Stefan Meister
Stefan Meister (intercultures)

Die virtuelle Zusammenarbeit ist mittlerweile der etablierte „Normalzustand“ für Teams und Projektarbeit. Anders als früher nicht nur vorwiegend in der internationalen Zusammenarbeit, sondern heute auch zum Beispiel in der Zusammenarbeit von Mitarbeitern eines Standortes in Deutschland. Der entscheidende Faktor für die Performance in der virtuellen Zusammenarbeit ist die virtuelle Nähe – das sagt Stefan Meister, Kopf von intercultures. Ich spreche heute mit Stefan über dieses Konzept der virtuellen Nähe. Was ist das und was kann das?

Stefan, wir können uns ja viel vorstellen unter „virtueller Nähe“, aber was ist das genau? Was ist „virtuelle Nähe“?

Der Ausgangspunkt war die Frage: Was sind Erfolgskriterien virtueller Zusammenarbeit? Wir, also Marcus Hildebrandt und ich, haben uns vor 15 Jahren diese Frage gestellt. Es gab virtuelle Zusammenarbeit, aber wenig Erkenntnisse über die grundlegenden Mechanismen erfolgreicher virtueller Zusammenarbeit. Zu den Pionieren der Erforschung virtueller Zusammenarbeit gehören Jessica Lipnack und Jeffrey Stamps. Wir sind den Weg weiter gegangen und haben in vielen Workshops, auch international, die Menschen nach ihren Erfolgskriterien gefragt. Die häufigste Antwort war: Vertrauen.

Vertrauen ist die Basis, um erfolgreich virtuell zusammen zu arbeiten. Das können wir uns ja auch leicht vorstellen. Es gab damals eine Internationale Vertrauensforschung. Hier werden mindestens 12 Dimensionen von Vertrauen genannt. Da haben wir gezweifelt, ob man Vertrauen verlässlich international so operationalisieren kann, dass Leitlinien für die Praxis abgeleitet werden können.

Da haben wir gesagt: Lass uns doch mal gucken, ob es etwas gibt, was einfacher zu erfassen ist und eine Grundvoraussetzung für Vertrauen sein könnte. Da sind wir auf das Konzept „virtuelle Nähe“ gekommen.

Virtuelle Nähe ist der Grad, in dem Menschen über eine virtuelle Distanz hinweg sich anderen Menschen, einem Team, einem Zweck oder einem Thema verbunden fühlen.

Virtuelle Nähe ist der Grad, in dem Menschen über eine virtuelle Distanz hinweg sich anderen Menschen, einem Team, einem Zweck oder einem Thema verbunden fühlen. Und Menschen haben ein schnelles Verständnis davon, um was es geht. Virtuelle Nähe ist wahrgenommen, ist gefühlt.

Ihr habt dazu ein Buch veröffentlicht, nämlich „Closeness at a Distance: Leading Virtual Groups to High Performance“.

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Ich sehe den Unterschied von virtueller Nähe zu psychologischer Sicherheit darin, dass sich außer den zwischenmenschlichen Dimensionen auch andere Dimensionen in der virtuellen Nähe wiederfinden, z.B. die gefühlte Nähe zu einem Thema – ich kann mich einem Thema nahe fühlen, weil es mich interessiert oder ich sogar dafür brenne.

Ja, und wenn es virtuelle Nähe gibt und die virtuelle Nähe unterschiedlich erlebt wird, dann ist die nächste Frage: In welchen Bereichen kann ich virtuelle Nähe aufbauen? Wir haben in unserer Forschung 20 Dimensionen ermitteln können, die wir in 5 Kategorien organisiert haben.

Die erste Dimension betrifft die räumliche und zeitliche Trennung. Es geht darum, inwieweit die geografische Trennung als Vorteil oder als Nachteil gesehen wird. Finde ich es vorteilhaft, dass wir geografisch verteilt zusammenarbeiten oder hin ich eher davon genervt?

Die zweite Dimension umfasst das klassische Projektmanagement. Haben wir die richtigen Menschen und Erfahrungen im Team? Haben wir gemeinsam unseren Purpose so definiert, dass unser Purpose attraktiv ist? Wenn die richtigen Menschen beisammen sind und wir unseren Purpose als attraktiv wahrnehmen, dann erleben wir mehr virtuelle Nähe.

Der dritte Bereich ist all das, was die organisatorische Seite betrifft. Haben wir Visibility, haben wir Rückhalt vom Management, haben wir alle benötigten Ressourcen? Wenn die organisatorischen Rahmenbedingungen schlecht sind, können andere positiv ausgeprägte Dimensionen der virtuellen Nähe ausgehebelt werden.

Der vierte Bereich ist die „E-Culture“. Inder müssen nicht Deutsche werden und umgekehrt. Wir begeben uns in einen neuen, künstlichen Raum. Und da dieser Raum neu ist, können wir den aushandeln. Den Raum Indien oder den Raum Deutschland können wir nicht aushandeln. Den neuen virtuellen Raum können wir aushandeln und die Inder müssen nicht mehr Inder bleiben und die Deutschen nicht mehr Deutsche. In diesen Bereich gehört die Fragen: Welche Medien wollen wir für welchen Zweck nutzen? Welche Netiquette soll für uns gelten?

Die „E-Culture“ öffnet Freiräume und kann auch helfen, sich von eigenen kulturellen Hintergründen zu lösen. Was wir da sehen, ist eine Globalisierung der Kultur virtueller Zusammenarbeit.

Und der fünfte Bereich ist die Inklusion. Wir meinen damit nicht nur organisatorische oder nationale kulturelle Unterschiede, sondern auch Arbeitsstile, Kommunikationsstile und Feedbackstile. In der Online-Kommunikation passiert es leicht, dass wir Menschen verlieren. Und wir merken das oft zu spät. Die Frage ist also, wie kann ich einem virtuellen Raum mit Menschen, die völlig unterschiedliche Arbeits- und Kommunikationsstile haben, die vorhandene Vielfalt zum Vorteil nutzen?

Also eine Wertschätzung von Diversität in jeglicher Hinsicht. Ich fasse zusammen:

  • Räumliche und zeitliche Trennung
  • Projektmanagement
  • organisatorische Rahmenbedingungen
  • E-Culture
  • Inklusion

Wie können wir denn den Grad der virtuellen Nähe bestimmen?

Wir haben ein psychometrisches Tool aufgesetzt, das heißt im Moment noch „Virtual Performance Assessment“ (VPA®). Das VPA bildet die gefühlte Nähe – das ist wichtig: die gefühlte Nähe – zu den einzelnen Aspekten ab.

Ausgeprägte virtuelle Nähe bedeutet nicht automatisch hohe Leistung.

Es kann durchaus sein, dass die Ergebnisse nicht den Erwartungen der Befragten entsprechen. Zum Beispiel sind die Teammitglieder der Meinung, wir verbringen viel Zeit in synchroner Kommunikation und finden das toll. Es kann aber sein, dass das kontraproduktiv ist, weil wir dafür extrem viel Zeit investieren müssen. Ausgeprägte virtuelle Nähe bedeutet nicht automatisch hohe Leistung. Wir müssen das immer im Zusammenhang sehen. Das ist wie ein System kommunizierender Röhren. Wir haben ja auch nur eine bestimmte Menge an Energie und wenn wir alle sehr viel synchron miteinander kommunizieren, dann kippt wahrscheinlich etwas an der anderen Seite.

Das ist wohl auch typisch für die Phase, in der wir uns befinden. Ich habe den Eindruck, dass wir zu oft versuchen, die gewohnten synchronen Vorgehensweisen der Zusammenarbeit in die virtuelle Welt zu übertragen, wobei die Möglichkeiten der asynchronen Kommunikation nicht ausgeschöpft werden.

Genau. Und wenn wir in der VPA Auswertung sehen oder in Gesprächen hören, es sei doch klar, welche Medien für welchen Zweck eingesetzt werden, dann sagen wir „lasst uns da lieber gemeinsam draufgucken“. Denn wenn den Menschen die Wahl gelassen wird, sagen die meisten „das machen wir alles synchron“. Und das geht eben nicht, die Menschen und Teams werden überlastet. Wir müssen da strategisch rangehen und die Vorteile der synchronen und der asynchronen Kommunikation bewusst nutzen.

Man sollte sich klarmachen, dass bestimmte Handlungen nur synchron durchgeführt werden können, und andere Handlungen besser asynchron durchgeführt werden. Sogenannte divergente Handlungen, zum Beispiel Brainstorming, Fragen stellen oder Kennenlernen können wir auch asynchron durchführen. Da gibt es häufig erstmal Unverständnis nach dem Motto „was, Kennenlernen asynchron?“, aber das sind Dinge, die man auch asynchron machen kann.

Auf der anderen Seite haben wir konvergente Handlungen, zum Beispiel Entscheidungen treffen oder Konflikte lösen, und diese müssen zwingend synchron durchgeführt werden. Es gibt ja nichts schlimmeres, als Konflikte per E-Mail lösen zu wollen.

Ja, das ist aus meiner Sicht eine typische Situation in vielen Unternehmen: Die Tools sind mittlerweile vorhanden und bereitgestellt. Aber die virtuelle Zusammenarbeit ist anders als die gewohnte Zusammenarbeit, es gelten andere Regeln für Effizienz. Und die neuen Vorgehensweisen müssen ausgehandelt werden.

Damit sprichst du weitere Aspekte der virtuellen Nähe an. Das eine ist das „geteilte Führen“, ein großer Erfolgsfaktor für die virtuelle Zusammenarbeit. Und das geteilte Führen ist auch kulturgebunden. Man kann sich vorstellen, dass das Skandinaviern leichter fällt als Indern. Der zweite Faktor ist ebenfalls ganz wichtig, nämlich die Rahmensetzung. Führen heißt Rahmen setzen. Die meisten Führungskräfte haben noch nicht realisiert, dass sie auch und gerade in der virtuellen Welt ständig Rahmen setzen müssen, zum Beispiel was die Einhaltung von Spielregeln betrifft.

Stefan, ganz lieben Dank für die Einblicke, die du mit uns teilst und deine Zeit!

Virtuelle Nähe

Barbarba Engel

Barbara Engel verbindet Menschen, um ein gemeinsames wirkungsvolles Handeln zu ermöglichen. Sie hat eine Leidenschaft dafür, die Pfade von Einzelnen zu verweben sowie starke und nachhaltige Beziehungen in Teams und Communities zu schaffen. Wir haben uns vor mehr als 13 Jahren beim Seminar Positive Power and Influence in Grassau kennengelernt. Das war ihr erstes Kommunikationsseminar in Ihrer Cybersecurity Laufbahn bei Siemens. Vor kurzem bin ich auf ihr Webinar zum Thema virtuelle Nähe aufmerksam geworden.

Die Antwort auf Social Distancing scheint virtuelle Nähe. Die große Frage ist, wie kann ich diese virtuelle Nähe erzeugen?

Für mich hat das ganz viel mit dem Verhalten und der Fragetechnik des Moderators zu tun. Wenn ich als Moderator des Meetings gut in meinem eigenen Körper präsent bin und immer wieder in mich rein spüre, wie stark ich mich gerade mit den anderen Teilnehmer*innen verbunden fühle, kann ich dieses Bewusstsein als Stellschraube benutzen.

Was empfiehlst Du all den Menschen im Home-Office, dass auch sie leicht und schnell virtuelle Nähe erzeugen?

Ganz konkret heißt das beispielsweise, ganz am Anfang mit einer oder sogar einer Reihe von Check-In Fragen zu starten die Nähe erzeugen. Die Frage „Wo befindest du dich gerade örtlich und räumlich?” regt unser räumliches Vorstellungsvermögen an und gibt uns ein Gefühl dafür, wie das Umfeld aussieht an dem sich mein Gegenüber befindet. Dies kann gefolgt sein durch die Einladung, auch etwas Persönlicheres Preis zu geben, wie zum Beispiel durch „Womit umgibst du dich gerade an dem Ort, an dem du bist? Zeig mir einen persönlichen Gegenstand und sag kurz dazu, was du damit verbindest.” Und je nach Gruppe ist es dann auch noch möglich ein Stück weiter zu gehen – auch mit Fragen die richtig ans Eingemachte gehen um auch Ängste und Sorgen preis zu geben. Dadurch entsteht neben Nähe auch noch sehr viel Vertrauen innerhalb der Gruppe.

Welche Tools der virtuellen Zusammenarbeit nutzt Du und warum?

Eine Grundvoraussetzung für mich ist die Möglichkeit während des Gesprächs auch eine visuelle Verbindung zu meinem Gegenüber zu haben. Zumindest am Anfang kurz das Video anzuschalten und mein Gegenüber zu sehen ist aus meiner Sicht essentiell – vor allem bei Erstkontakten. Aktuell nutze ich ganz gerne Zoom, weil es in der Kachelansicht die Möglichkeit gibt eine größere Anzahl von Teilnehmer*innen gleichzeitig zu sehen – und weil ich damit so genannte „Break-Out Rooms” für Kleingruppenarbeit machen kann. Je nach Anwendungsfall kombiniere ich diese Art der Videokonferenz gerne mit anderen Tools die andere Aspekte abdecken, wie beispielsweise digitale Whiteboards zum gemeinsamen Brainstorming oder visuellem Erarbeiten von Dingen. In einem länger andauernden Projekt kann es Sinn machen ein Kanban Board zur Transparenz von Aufgaben oder ein Art Chat-Tool wie beispielsweise Slack mit zu kombinieren. Doch die persönliche Auswahl ist mit Sicherheit von verschiedenen Aspekten abhängig und sollte auch unter Gesichtspunkten der Datensicherheit und des Datenschutzes persönlich betrachtet werden.

Wer jetzt neugierig geworden ist, wie kann er oder sie noch mehr zur virtuellen Nähe lernen?

Für mich hängt virtuelle Nähe sehr stark auch mit Vertrauen zusammen. Als ich meinen Lern- und Erfahrungsraum zu Nähe und Vertrauen im virtuellen Umfeld vorbereitet habe, habe ich ein Buch wiederentdeckt, das schon seit ein paar Jahren in meinem Bücherregal stand. Es heißt Vertrauen führt” von Reinhard K. Sprenger. Eigentlich für die Anwendung für Führungsprinzipien in Unternehmen gemacht, finde ich, dass es viele Analogien zum virtuellen Arbeiten gibt. Am 17. April von 8:05 bis 9:25 Uhr und am 26. April von 9:35 bis 10:55 Uhr werde ich nochmal meinen Lern- und Erfahrungsraum im Webinar Nähe und Vertrauen im virtuellen Umfeld schaffen öffnen. Da könnt ihr dann auch einige der Konzepte selbst ausprobieren und euch beispielsweise in verschiedenen Ebenen des Zuhörens üben.

Super, vielen Dank Barbara für Deine spannenden Antworten und viel Spaß beim Webinar.