Die Themen Inklusion und Vielfalt sind Bestandteile der Nachhaltigkeitsstrategie von Siemens Energy und in den ESG (Environment, Social, Governance)-Zielen verankert.
Bettina Wöhrl beschäftigt sich neben ihrer Tätigkeit als eLearning-Expert auch mit dem Themenkomplex um Inclusion, Diversity und Allyship.
Frage 1: Was ist Allyship und warum ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen?
Der Tennisspieler Andy Murray wurde nach seinem zweiten Olympia-Gold von einem Interviewer gefragt, wie es sich anfühlt, als erster zwei mal Gold gewonnen zu haben. Er hat geantwortet, dass Venus und Serena Williams doch jeweils schon vier mal gewonnen haben. In diesem Moment war Murray ein Ally, ein Verbündeter. Allyship ist die – im besten Fall aktive – Solidarität mit einer marginalisierten Gruppe. Es ist ein Hebel, die systemischen Ungleichgewichte auszugleichen. Und zwar nicht dadurch, dass sich ein Mitglied einer marginalisierten Gruppe à la Münchhausen selbst am Schopf aus dem Sumpf zieht, sondern durch die authentische Unterstützung einer in diesem Fall privilegierteren Person.
Frage 2: Wie und wo entstehen denn für bestimmte Gruppen Benachteiligungen?
Wir alle sind Impulsen von kognitiven Verzerrungen, sogenannten Biases, ausgesetzt. Unser Hirn kommt bei den Tausenden von Einschätzungen, die es täglich trifft, zu einer schnellen Schlussfolgerung, ohne alle Fakten zu kennen. An sich eine praktische Abkürzung und schlau & effizient eingerichtet von unserem Gehirn. Aber es macht uns eben auch voreingenommen und lässt uns, oft unbewusst, voreilige Schlüsse treffen, die zudem falsch sein können.
Ein Alltagsbeispiel: Bin ich bei Freunden eingeladen und es herrscht Unordnung in der Küche, so denke ich nicht als erstes „Mensch, der Mann hat ja nicht aufgeräumt“, sondern der Impuls ist „Warum hat die Frau den Haushalt nicht im Griff?“. Es greifen stereotype Zuordnungen, die wir sofort unbewusst abrufen, wir greifen auf unser Schubladenwissen zurück. Und „in der Küche aufräumen“ haben viele, wenn nicht die meisten, in der Schublade „Frauenjob“. Da spielen viele Dinge mit hinein: unsere Sozialisierung, unsere Sehgewohnheiten, also die Häufigkeit bestimmter Zuordnungen, geprägt durch Umfeld zum einen, aber auch Gesellschaft und Medien zum anderen.
Das Thema hat viele Dimensionen, nicht nur Geschlecht, sondern zum Beispiel auch Alter: Der Auszubildende wird mit seinem Vorschlag nicht ernst genommen, weil er noch „grün hinter den Ohren ist“ und von der Kollegin kurz vor der Rente wird wiederum angenommen, dass sie sich mit Veränderung xy jetzt sicher schwer tun wird … „in ihrem Alter“.
Ich beschäftige mich gerade mit einem Training zu Fragetechniken in Job-Interviews. Der gesamte Hiring-Prozess ist ein gefundenes Fressen für unsere Biases. Das geht schon beim Bild auf der Bewerbung los: Eine kopftuchtragende Frau wird gegenüber einer nicht-kopftuchtragenden Frau, bei Konstanthaltung aller anderen Variablen, signifikant seltener eingeladen – sie muss viermal so viele Bewerbungen verschicken, um eine Einladung zum Gespräch zu bekommen!
Der sogenannte Similiarity Bias spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine große Rolle. Interviewe ich eine Person, die den gleichen Abschluss an der gleichen Universität wie ich gemacht hat, dann haben wir etwas gemeinsam. So bin ich möglicherweise positiv voreingenommen und die Wahrscheinlichkeit wird höher, dass ich sie einstelle. Was aber wenn jemand anderes, der sich ebenfalls beworben hat, genauso gut oder sogar einen Tick besser geeignet ist für den Job? Das entgeht mir dann.
Frage 3: Wie können wir mit diesen Situationen umgehen, zum Beispiel im Hiring-Prozess?
Am leichtesten packt man konkret dieses Übel an der Wurzel, wenn man sich nicht nur auf seine eigene Einschätzung verlässt, sondern andere zu einem Balanced Interview Panel mit dazu holt. Das „balanced“ bedeuted dabei, möglichst Personen dazu zu holen, die mir selbst möglichst unähnlich sind und so die Kandidat*innen mit einem anderen Blick wahrnehmen. Zwei gleich alte Ingenieure, die sich schon von der Uni und aus dem Sportclub kennen, wären jetzt zum Beispiel nicht sehr balanced.
Und viele dieser Benachteiligungen passieren im Kleinen tagtäglich. Seitenhiebe und Ungerechtigkeiten im Arbeitsalltag – kleine und auch große. Auch wenn vieles davon unbewusst passiert, entbindet uns das nicht von der Verantwortung, uns selbst in dieser Richtung zu hinterfragen und aktiv gegenzusteuern. Bewusstsein schaffen für Privilegien – bei sich und anderen. Du bist in einem männlich geprägten Arbeitsumfeld ein Mann? Dann hast du viele Nachteile und Vorurteile, mit denen eine Frau dort zu kämpfen hat, nicht. Du bist in einer deutschen Stadt weiß? Die Nachteile und Vorurteile, mit denen Personen anderer Ethnien zu kämpfen haben, kann ich mir wahrscheinlich gar nicht im tatsächlichen Ausmaß vorstellen. Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis dafür, dass bestimmte Machtstrukturen für bestimmte Gruppen Nachteile bedeuten. Und es benötigt Unterstützung für diese Gruppen, um gleiche Bedingungen zu haben und diese Nachteile letztlich aus dem Weg zu räumen.
In dem Beispiel mit dem Azubi oben könnte ein Ally als Amplifier fungieren: „Ich möchte diesen Vorschlag, den unser Azubi eingebracht hat, gerne nochmal besprechen.“ Dabei geht es nicht darum den Retter zu spielen, sondern auch den kleinen Situationen der Ungerechtigkeit mit einer gewissen Selbstverständlichkeit entgegenzutreten – statt sie unkommentiert stehen zu lassen.
Frage 4: Welche Vorteile hat ein Unternehmen, wenn wir uns damit beschäftigten?
Wann können Mitarbeiter*innen ihr volles Potential ausschöpfen und wie können wir es schaffen, dass Menschen sie selbst sein und sich voll einbringen können? „Bring your whole self to work“ ist dazu die bekannte Phrase im Englischen und innerhalb der Diversity-Begriffswelt ist hier dann auch von Belonging, Zugehörigkeit, die Rede. Ich gehöre hier her, ich kann hier so sein, wie ich bin und fühle mich wohl und sicher. Hier spielt sicherlich auch psychologische Sicherheit und am Ende Arbeitszufriedenheit eine große Rolle. Faktoren, von denen ein Unternehmen nur profitieren kann.
Vielleicht erinnert man sich noch an das Bild, das nach dem CEO-Business-Lunch am Rande der Sicherheitskonferenz dieses Jahr durch die Presse wanderte. An einer elegant eingedeckten großen Tafel saßen geschätzt 50 weiße Männer mittleren Alters. Diversity meint, einen Platz an so einem Tisch zu bekommen. Aber der Platz am Tisch reicht nicht – es braucht auch eine Stimme, es braucht Inclusion. Und letzten Endes, wenn ich mich authentisch und ohne Scheu einbringen kann, dann sind wir bei Belonging angekommen. Vom Platz am Tisch zur echten Teilhabe.
Vielen Dank, Bettina, für das Gespräch!