Psychologische Sicherheit fördern – Maßnahmen, Methoden, konkrete Tipps

Wie kann man psychologische Sicherheit herstellen? Nun, man kann psychologische Sicherheit nicht herstellen, so wie man ein Produkt herstellt. Man kann psychologische Sicherheit fördern. Man kann Rahmenbedingungen ändern, so dass hemmende Faktoren für psychologische Sicherheit abgebaut werden und fördernde Faktoren für psychologische Sicherheit aufgebaut werden. Hier gibt es konkrete Tipps für die Förderung psychologischer Sicherheit, unter anderem auch einen radikalen Vorschlag, der die Erfahrungswelt der meisten Menschen, die in Organisationen arbeiten, auf den Kopf stellt.

Im Beitrag Psychologische Sicherheit – Voraussetzung für effektive Teams habe ich beschrieben, was Psychologische Sicherheit bedeutet, und inwiefern psychologische Sicherheit die Voraussetzung ist für Agilität, Performance und Lernen. Falls du den Beitrag noch nicht gelesen hast, solltest diesen lesen, bevor du hier weiterliest.

Um deine Neugier nicht zu strapazieren, kommt der „radikale Vorschlag“ gleich am Anfang. Ich unterscheide bei den Zugängen zur Förderung psychologischer Sicherheit unterschiedliche Ansätze, je nachdem, auf welcher Ebene man ansetzt.

Strukturelle Ansätze

Hier also mein versprochener radikaler Vorschlag: Abschaffung der Hierarchie. Klingt radikal, ist radikal.

Mit der Abschaffung der Hierarchie und mit Selbstorganisation wird eine der Wurzeln für psychologische Unsicherheit (Abwesenheit von psychologischer Sicherheit) beseitigt. Die typischen Befürchtungen, die mit einem Abhängigkeitsverhältnis und der Bewertung durch Höhergestellte einher gehen, fallen weg. Natürlich ist höhere psychologische Sicherheit nicht „der“ Grund für die Abschaffung der Hierarchie. Man verspricht sich von Systemen, die konsequent auf Selbstorganisation setzen, weit mehr. Und „Abschaffung der Hierarchie“ bedeutet nicht, dass niemand mehr verantwortlich ist. Aber die Hierarchie dient nur noch der Entsprechung rechtlicher Anforderungen, und hält sich aus der Wertschöpfung heraus (ein gewaltiger Unterschied zum üblichen tayloristischen Organisationsmodell).

Das Problem mit diesem Ansatz: Es braucht einen einflussstarken Visionär an der Spitze des Unternehmens, der die Transformation der Organisation nach dem Prinzip der Selbstorganisation vorantreibt, solange bis es „von alleine“ läuft. Unternehmenslenker, die das tun, sind seltener als Nobelpreis-Gewinner. Aber es gibt sie, und es werden mehr (denke ich). Als Beispiel kann hier Jos de Blok genannt werden, der das Unternehmen Buurtzoorg mit heute ca. 10.000 Mitarbeitern aufgebaut und damit den ambulanten Pflegedienst revolutioniert hat.

Es gibt einige Organisationsmodelle für konsequente Selbstorganisation:

  • Holacracy (Holokratie) ist ein Regelwerk, nach dem das Unternehmen gemeinsam gestaltet wird. Es wird u.a. von Extinction Rebellion, mymuesli und Freitag angewendet.
  • betacodex ist ein Regelwerk mit 12 Prinzipien, das auf Selbstorganisation setzt.

Ich weise nochmal darauf hin, dass psychologische Sicherheit viele Aspekte und Determinanten hat, und strukturelle Ansätze keinesfalls psychologische Sicherheit garantieren. Ein Faktor, der psychologische Sicherheit tendenziell hemmt (die klassische Hierarchie) fällt weg. Viele andere wichtige Determinanten sind davon unberührt. Zum Beispiel gibt es weiterhin ein psychologisches Bedürfnis, mit dem Team übereinzustimmen. Darüber hinaus entwickelt sich in Gruppen immer eine informelle Führung, auch wenn es keine offizielle Führungsposition gibt.

Psychologische Sicherheit ist Voraussetzung für effektive Teams. Selbstorganisation schafft nicht automatisch psychologische Sicherheit.

Personalauswahl und Personalentwicklung

Bleiben wir noch in der Welt der tayloristischen Organisation. Wir haben also eine Hierarchie, wir haben Manager. Was können wir auch innerhalb eines solchen Rahmens tun, um psychologische Sicherheit zu fördern?

No Asshole Rule

Die „No Asshole Rule“ besagt kurz gefasst: Achte darauf, keine Arschlöcher in der Organisation zu haben. So lautet die Grundthese des gleichnamigen Buches von Robert I. Sutton (auf Deutsch: Der Arschloch-Faktor). Die durch Arschlöcher angerichteten menschlichen und wirtschaftlichen Schäden können sehr groß werden. Daher empfehlen sich folgende Ansätze:

  • Arschlöcher müssen bereits in der Personalauswahl identifiziert werden und dürfen nicht eingestellt werden, auch bei fachlicher Eignung.
  • Falls es bereits Arschlöcher in der Organisation gibt, und diese nicht an ihrer persönlichen Weiterentwicklung interessiert sind, bleibt nichts anderes übrig, als sie zu entfernen.
  • Problematische Verhaltensweisen wie Beleidigungen, Drohungen oder Demütigungen sollten angesprochen werden, um den Übeltätern ihr Verhalten zu spiegeln und zu signalisieren, dass so ein Verhalten nicht geduldet wird.

Weiterentwicklung der Führungskräfte

Führungskräfte müssen lernen, psychologische Sicherheit im Team zu beachten und zu fördern. Hierbei denke ich an folgende Verhaltensweisen:

  • Führungskräfte sind Vorbild. Sie gehen voran, was Offenheit betrifft. Sie teilen sich mit und sagen ehrlich, wie es ihnen geht.
  • Führungskräfte teilen auch, was ihnen nicht gelungen ist, wo sie vielleicht einen Fehler gemacht haben, zeigen sich als Mensch verletzlich.
  • Führungskräfte zeigen echtes Interesse an dem, was Teammitglieder bewegt. Sie ermuntern Teammitglieder mit Fragen, sich zu äußern. „Heikle“ Äußerungen der Teammitglieder werden nicht missbilligt, sondern wertgeschätzt.
  • Führungskräfte kommunizieren mit den Teammitgliedern auf Augenhöhe. Begegnungen mit Teammitgliedern sind Begegnungen mit gleichgestellten erwachsenen Menschen.
  • Go to Gemba: Führungskräfte sitzen nicht nur im Eckbüro, sondern gehen dahin, wo die Wertschöpfung stattfindet und sprechen über Abläufe, Probleme und mögliche Lösungen, seien sie auch noch so „klein“.

Ein Beipiel: Edwin Catmull, der frühere Präsident von Pixar und Walt Disney Animation Studios, hat selbst vor seinen Mitarbeitern Fehlentscheidungen zugegeben und seine Mitarbeiter immer wieder ermuntert, Fehler nicht zu scheuen. Fehler seien ein unvermeidbares Ergebnis, wenn man viele neue Dinge anfängt und Risiken eingeht („fail early and fail fast„). Es komme darauf an, aus Fehlern zu lernen.

Ein Problem mit diesem Ansatz: Wenn die Unternehmenskultur solche Verhaltensweisen nicht unterstützt, kann eine einzelne Führungskraft, auch bei gutem Willen, nur wenig ausrichten.

Methoden, die auf Team-Ebene eingesetzt werden können

Unabhängig davon, ob es Manager oder Führungskräfte gibt, kann das Team selbst etwas für mehr psychologische Sicherheit tun. In der Regel gibt es jemand wie einen Scrum-Master, die/der solche Prozesse initiiert (weil mit so einer Funktion meistens ein Vorsprung im Methodenwissen einher geht), aber im Prinzip kann jedes Team selbst diese Dinge umsetzen. Hier einige Ideen und Tipps:

  • Es gibt eine gelebte Feedback-Kultur. Feedback ist ein Lern-Booster und selbstverständlicher Bestandteil agiler Methoden. Eine gelebte Feedback-Kultur ist auch ein starkes Zeichen für psychologische Sicherheit.
  • Alle Teammitglieder beantworten regelmäßig einen Fragebogen zur Effizienz des Teams.
  • Alle Teammitglieder beantworten regelmäßig einen Fragebogen zur psychologischen Sicherheit im Team (ein Beispiel-Item aus dem Project Aristotle Fragebogen: „If you make a mistake on this team, it is often held against you“).
  • Auch ohne Fragebogeneinsatz kann das Thema psychologische Sicherheit thematisiert werden, etwa durch eine schnelle Einschätzung auf einer Skala von 1 bis 5 (1 = 1 sehr unsicher, 5 = sehr sicher). Hier könnte ggf. auch ein Audience Response Tool wie Mentimeter zum Einsatz kommen, wenn die Einschätzung anonym erfolgen soll, (was ja zunächst kein gutes Indiz für psychologische Sicherheit ist, aber vielleicht ist das Vorgehen so niedrigschwellig, dass man realistische Ergebnisse bekommt).
  • Ein Meeting startet mit einer Art Vorstellungsrunde, in der die Teammitglieder unbekannte Seiten von sich offenlegen. Zum Beispiel nennt jedes Mitglied 3-10 Hashtags, die die eigene Person beschreiben. Ähnlich ist die Methode Personal Map, eine Variante der Mind Map. In Mitte steht der eigene Name, drumherum Zweige mit Themenbereichen wie Hobbies oder Familie. Andere können Fragen stellen. Besonders interessant wird es, wenn sich hier Anknüpfungspunkte ergeben für einen weiteren Austausch.
  • „Unabhängig von dem, was wir entdecken werden, glauben wir, dass jede/r ihr/sein Bestes gegeben hat, unter Berücksichtigung der Zeit, der eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen, der zur Verfügung stehenden Mittel und der Situation“. Dieser Satz wurde von Norman L. Kerth formuliert (Project Retrospectives: A Handbook for Team Reviews). Wenn man diesen Satz einer Retro voranstellt, wird es leichter gemacht, sich sicher zu fühlen und offen über die Zusammenarbeit zu sprechen.
  • Wahlweise können einige der Core Protokolle von Jim und Michele McCarthy eingesetzt werden. Die McCarthys haben untersucht, was erfolgreiche Teams besser macht. Um Teams dabei zu unterstützen, besser zu werden, haben sie 11 einfache Protokolle zusammengestellt: Pass (Unpass), Check In, Check Out, Ask For Help, Protocol Check, Intention Check, Decider, Resolution, Perfection Game, Personal Alignment, Investigate. Ein Beispiel: Im Check In sagt jeder Teilnehmer, wie sie/er sich fühlt. Es geht darum, eigene Gefühle offenzulegen, und aufmerksamer gegenüber der Gefühlslage anderer zu werden.
  • Für Gruppenprozesse kommen Liberating Structures zum Einsatz. Liberating Structures sind (aktuell) 33 Mikrostrukturen, die von Keith McCandless und Henri Lipmanowicz zusammengetragen wurden. Es sind Methoden für Teams, um alle Teammitglieder einzubeziehen, bessere Ergebnisse zu erzielen und Vertrauen im Team aufzubauen.
  • Teams treffen sich, wann immer möglich, Face to Face.

Alle genannten Methoden sind dazu geeignet, die psychologische Sicherheit im Team zu fördern, auch wenn zum Teil eigentlich andere Dinge (Arbeitsergebnisse) im Fokus stehen.

Individuelles Verhalten

Und jetzt noch einige Hinweise, was jede(r) einzelne tun kann, unabhängig von strukturellen Maßnahmen oder dem Einsatz bestimmter Methoden oder Tools, um psychologische Sicherheit im Team zu fördern. Auch hier gilt: Diese Verhaltensweisen zahlen auf viele Konten ein – nicht nur, aber eben sehr viel,  auf das Konto psychologische Sicherheit.

  • Miteinander reden, statt übereinander. Das bedeutet auch: Lass das Lästern!
  • Erweise dich als vertrauenswürdig. Halte deine Versprechen und Zusagen ein. Sei ehrlich.
  • Lege Aufmerksamkeit auf Details, bei dir und bei anderen.
  • Tu das, was richtig ist (und nicht das, was einfach ist).
  • Wertschätze Diversität.
  • Höre aufmerksam zu. Zeige Interesse.
  • Zeige Empathie.
  • Äußere offen deine Gedanken, Gefühle, Probleme, Bedenken, Sorgen, oder Bedürfnisse.
  • Gib konstruktiv Feedback (WWW – Wahrnehmung, Wirkung, Wunsch).
  • Sei offen für das Feedback anderer (RASA – Receive, Appreciate, Summarize, Ask).
  • Lerne, das mit einigen der hier genannten Punkte einhergehende unangenehme Gefühl zuzulassen. Es geht dann schneller, die Dinge nicht mehr als unangenehm zu empfinden.

Kurz gesagt: Individuals and Interactions Over Processes and Tools. So lautet der erste Wert des agilen Manifests. Hier sind Soft Skills sehr gefragt und ggf. sollten Teammitglieder an Trainings zur Weiterbildung ihrer Soft Skills teilnehmen. um psychologische Sicherheit fördernde Verhaltensweisen kenenzulernen, auszuprobieren und zu üben.

Welche Ideen hast du noch, um psychologische Sicherheit im Team zu fördern?

6 Antworten auf „Psychologische Sicherheit fördern – Maßnahmen, Methoden, konkrete Tipps“

  1. Ich bin total fasziniert von diesem Artikel und habe soeben sehr viel gelernt. Das kann ich in der momentanen Situation sehr gut anwenden – denke ich.

  2. Ein sehr wichtiges Thema! Herzlichen Dank für das fundierte Nachdenken über die verschiedenen Einflussfaktoren!

    Einen Aspekt möchte ich ergänzen: Tatsächlich hängt es von der individuellen Selbststeuerungskompetenz ab, wie sich die einzelnen Mitarbeiter:innen oder Führungskräfte verhalten.

    Innere Sicherheit entsteht, wenn Menschen einen ausreichenden Zugang zu sich selbst haben. „Jemand ruht in sich“ – mit diesem Ausdruck wird das gerne beschrieben. Das führt zu mehr Gelassenheit, zum Erkennen von mehr Alternativen und zum Abschied von Schwarz-Weiß-Denken oder starrem Festhalten an überlebten Regeln. Und eben auch zu mehr Gelassenheit im Umgang mit Fehlern…

    Diese Selbststeuerungskompetenzen können im Grad ihrer jeweiligen Ausprägung sichtbar gemacht und – sofern angezeigt – auch gezielt aufgebaut werden. Das hat nicht nur Auswirkungen auf das Verhalten des Einzelnen/der Einzelnen, sondern wirkt sich auch innerhalb der Organistation aus.

    Der Aufbau von Vertrauen in Gruppen bzw. Organisationen erfordert daher mehr als konkrete Ziele/Methoden – er beginnt mit der Vision auf der Ebene der Haltung.

Schreibe einen Kommentar zu Clarissa Steinemann Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert