Psychologische Sicherheit – Voraussetzung für effektive Teams

Was ist psychologische Sicherheit?

Amy Edmondson definiert „psychologische Sicherheit“ als eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der alle Teammitglieder sich offen äußern können, ohne beschämt zu werden, abgewiesen zu werden, oder sonst wie negativ sanktioniert zu werden.

Psychological safety is „a sense of confidence that the team will not embarrass, reject, or punish someone for speaking up“

Amy Edmondson

In einer Atmosphäre der psychologischen Sicherheit ist es möglich, Fragen zu stellen, neugierig zu sein, Fehler zuzugeben, Informationen zu teilen, oder Position gegen einen Vorschlag zu beziehen. Es ist möglich, zu experimentieren und Dinge auszuprobieren. Es wird akzeptiert, dass manche Experimente scheitern können; das wird nicht als Versagen eines Menschen gesehen, sondern als ein Lernfortschritt. Ja, man kann sich sogar verletzlich zeigen. Ohne negative Konsequenzen wie Kritik, Abwertung oder Schlechterstellung befürchten zu müssen. Es gibt eine Vertrauensbasis. Eine Frage kann Austausch und Nachdenken anregen. Ein Fehler kann zum Lernen beitragen und dessen Aufdecken weitere Fehler verhindern helfen. Alle werden gehört.

Bei der psychologischen Sicherheit geht es nicht darum, immer recht nett zueinander zu sein. Das wäre einfach, aber nicht zielführend. Es geht darum, offenes und ehrliches Feedback zu teilen, erlebte interpersonale und intrapersonale Spannungen anzusprechen, zwischenmenschliche Risiken einzugehen, Fehler zuzugeben, um Hilfe zu bitten und voneinander zu lernen. Das kann ziemlich herausfordernd sein.

Was ist psychologische Unsicherheit?

In einer Atmosphäre der psychologischen Unsicherheit (Abwesenheit von psychologischer Sicherheit, Wahrnehmung psychologischer Gefahr) beäugen sich die Teammitglieder ständig kritisch und sehen sich im (internen) Wettbewerb. Eine Frage ist ein Zeichen von Inkompetenz, ein Fehler ist ein Zeichen von Schwäche. Es geht darum, Gesicht zu wahren, die Fassade aufrecht zu erhalten, eigene Fehler zu verbergen, und keinesfalls vor den Kollegen schlecht dazustehen. Es fehlt an Vertrauen unter den Teammitgliedern.

Psychologische Sicherheit ist noch lange nicht der Normalfall, der er sein sollte. Woran liegt das?

  • Es gibt die menschliche Tendenz, vor anderen gut aussehen zu wollen. Das führt zu Anpassung oder Eitelkeiten.
  • In hierarchischen Umgebungen scheint es angebracht und wichtig, mit der Führungskraft übereinzustimmen.
  • Es gibt das Phänomen des „Group Think“ (ich habe hier bereits 3 Beiträge zu diesem Thema geschrieben). Das ist „ein Prozess, bei dem eine Gruppe von an sich kompetenten Personen schlechtere oder realitätsfernere Entscheidungen als möglich trifft, weil jede beteiligte Person ihre eigene Meinung an die erwartete Gruppenmeinung anpasst.“ („Gruppendenken“ in der Wikipedia)
  • Manche Führungskräfte glauben immer noch, mit Angst führen zu können und damit bessere Ergebnisse zu erzielen. Da jeder Mensch danach strebt, Schmerz zu vermeiden, muss man üble Konsequenzen androhen und dann tun die Mitarbeiter, was man verlangt, und das steigert die Leistung, richtig? Diamanten entstehen nur unter großem Druck, richtig?

Zum Punkt 4 halte dieses Beispiel für recht illustrativ: Die „Alec Baldwin-Rede“ im Film Glengarry Glen Ross (übrigens, ich habe tatsächlich selbst erlebt, dass ein damaliger Chef diese Szene vor dem Team gezeigt hat – und es war „motivierend“ gemeint! Kein Witz – es war ein Musterbeispiel für demonstrierte Verachtung):

Führen mit Angst kann unter Umständen sogar funktionieren, nämlich wenn es sich um hochstandardisierte Routine-Arbeit handelt. Allerdings haben wir kaum noch hochstandardisierte Arbeit, denn diese Art Arbeit wird von Maschinen übernommen. Für die Arbeit, die heute unsere Arbeit ist (Wissensarbeit), ist Angst ein Gift. Die neuropsychologische Forschung zeigt, dass Angst Lernen behindert und Zusammenarbeit behindert. Das konnte schon Pavlov 1924 feststellen. Nachdem ihm seine Versuchshunde in der Leningrader Flut fast ertrunken wären, hatten sie arge Schwierigkeiten, neues Verhalten zu lernen. Angst blockiert Lernen.

Eine kurze Geschichte der psychologischen Sicherheit

Der Ausdruck „psychologische Sicherheit“ kommt aus der Forschung über organisationale Transformation in Folge der bahnbrechenden Arbeiten von Kurt Lewin (3-Phasen-Modell, 1947). Edgar Schein und Warren Bennis (1965) zeigten, wie wichtig psychologische Sicherheit in einer Transformation ist. Die psychologische Sicherheit wird als Faktor gesehen, der stark beeinflusst, inwieweit Menschen bereit sind, Neues zu lernen. Schein schrieb später, dass psychologische Sicherheit es ermöglicht, gemeinsame Ziele zu verfolgen, ohne ständig mit dem Selbstschutz beschäftigt zu sein.

William Kahn (1990) führte den Begriff „psychologische Sicherheit“ in einen weiteren Zusammenhang des organisationalen Verhaltens (nicht nur der Transformation). Er erkannte, wie die psychologische Sicherheit bestimmt, ob Menschen engagiert sind oder eben nicht. Hier zeigt sich ein Zusammenhang zum Engagement Index, der uns regelmäßig damit konfrontiert, dass die Mehrzahl der Menschen in Organisationen nicht engagiert ist.

In der Folge wurden viele Determinanten von psychologischer Sicherheit untersucht, z.B. Persönlichkeitseigenschaften, zwischenmenschliche Beziehungen, Gruppendynamik, Führungsverhalten und organisationale Normen. Hier hat sich besonders Amy Edmondson hervorgetan, die psychologische Sicherheit quantifiziert hat. Edmondson zeigte den Zusammenhang zwischen psychologischer Sicherheit und Lernen im Team (1999). Teams, die psychologische Sicherheit erleben, sind offener im Austausch, auch wenn es darum geht, Fehler zu diskutieren und Informationen oder Hilfe von anderen zu erhalten.

Wer ist Amy Edmondson?

Amy Edmondson lehrt an der Harvard Business School, als Professorin für Führung und Management. Ihre Hauptthemen sind die Geheimnisse erfolgreicher Teams, Lernen in Organisationen und psychologische Sicherheit.

Im September 2019 wird sie vom HR Magazine als einflussreichste Denkerin im Bereich HR ausgezeichnet. Und im November 2019 wird sie von Thinkers50 zu den Top 3 der einflussreichsten Management Denker gezählt (Thinkers50 Ranking of Management Thinkers).

Ihr aktuelles Buch zum Thema psychologische Sicherheit:

The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth

Die angstfreie Organisation: Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Entwicklung, Lernen und Innovationen schaffen

Amy Edmondson wurde bekannt durch ihre Krankenhaus-Studie („Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams”, 1999). Zu ihrer großen Überraschung stellte sie damals fest, dass die besten Teams mehr Fehler machten als die schlechteren Teams. Wie kann das sein?

Des Rätsels Lösung: Die besten Teams machten in Wirklichkeit nicht mehr Fehler, sondern weniger. Jedoch die Offenheit und die Bereitschaft, Fehler zu berichten, war höher. Das war der Startpunkt ihrer Forschung über psychologische Sicherheit.

Für Edmondson ist psychologische Sicherheit eine Eigenschaft des Teams (nicht der Organisation, nicht des Individuums). Edmondson konnte feststellen, dass psychologische Sicherheit in unterschiedlichen Teams auch derselben Organisation extrem unterschiedlich sein kann. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Führungskräfte. Manche Führungskräfte schaffen es, Rahmenbedingungen für psychologische Sicherheit zu schaffen, andere nicht.

Warum ist psychologische Sicherheit so ein wichtiges Thema?

Es liegt auf der Hand: Psychologische Sicherheit ist Voraussetzung für den Erfolg von Teams. Und wenn man sich eine Organisation als ein Konglomerat von Teams vorstellt, ist psychologische Sicherheit eine Voraussetzung für erfolgreiche Organisationen. Psychologische Sicherheit ist ein Wettbewerbsvorteil und wird in der heutigen Wirtschaftswelt immer wichtiger.

Es gibt einen gut belegten und stabilen Zusammenhang zwischen psychologischer Sicherheit und Lernen und zwischen psychologischer Sicherheit und Leistung.

Ein beeindruckender Beweis für die Macht der psychologischen Sicherheit war das „Project Aristotle“ von Google (2016). Ziel dieser Studie war es, herauszufinden, was Hochleistungs-Teams von anderen Teams unterscheidet. Es wurden dafür alle möglichen Variablen untersucht, die einen Effekt auf die Leistung des Teams haben könnten (Zusammensetzung des Teams, Größe des Teams, räumliche Nähe, Schulbildung der Teammitglieder, usw.). Keine der genannten Variablen hatte einen besonderen Vorhersagewert. Bis man psychologische Sicherheit mit einbezog. Psychologische Sicherheit war tatsächlich der Prädiktor mit der höchsten Vorhersagekraft für die Team-Performance. „Project Aristotle“ machte das Konzept psychologische Sicherheit weltweit bekannt.

Zusammenfassung: Es gibt einen gut belegten und stabilen Zusammenhang zwischen psychologischer Sicherheit und Lernen und zwischen psychologischer Sicherheit und Leistung.

Warum wird das Konzept der psychologischen Sicherheit erst in jüngster Zeit populär?

Wie ich gezeigt habe, gibt es das Konzept der psychologischen Sicherheit schon lange und es ist sehr wichtig für den Erfolg von Teams und Organisationen. Warum wird es erst jetzt bekannt und populär? Ich sehe da folgende Gründe. Schreib doch mal im Kommentar, wie du die Sache siehst.

  • Es muss weh tun. Die Unternehmen müssen erst spüren, dass sie durch mangelnde psychologische Sicherheit ihre Attraktivität als Arbeitgeber, gute Mitarbeiter, Engagement und ganz viel Geld verlieren. Diese Erkenntnis muss erst richtig schmerzhaft sein, damit ein Kulturwandel angegangen wird und die Art der Zusammenarbeit geändert wird.
  • Führungskräfte müssten aufhören, die „Bestimmer“ zu sein und Macht abgeben an das Team. Eine Änderung der Verhältnisse würde ein neues Führungsverständnis erfordern. Wer sich durch seine Macht definiert, hängt daran fest, solange es geht.
  • Es gibt einen gesellschaftlichen Kulturwandel. Die Generation Y und Z findet oft nichts dabei, sich gegen „Chefs“ oder Repräsentanten der Hierarchie zu stellen (man muss sich nur mal ansehen, wie Luisa Neubauer in einer Talkshow auftritt).
  • Graswurzel-Bewegungen wirken von unten. Mitarbeiter suchen sich Teams, in denen psychologische Sicherheit gegeben ist. Sie gehen in Working Out Loud Circles, in denen sie außerhalb der täglichen Arbeit hierarchiefrei Netzwerkkompetenz erwerben und lernen.
  • Mitarbeiter arbeiten zunehmend mit agilen Methoden wie Scrum und Kanban. Psychologische Sicherheit ist ein wesentlicher Teil des agilen Mindsets.
  • Die Bewegung braucht eine Gallionsfigur oder einen Bestseller, oder Awards (wie im Falle Amy Edmondson), und/oder ein erfolgreiches und bekanntes Unternehmen, am besten aus dem Silicon Valley (wie Google), das als Vorreiter und Vorbild dient.

Für die relativ späte Entdeckung der psychologischen Sicherheit in der Wirtschaft spielt es vielleicht auch eine Rolle, dass nicht jede Idee, die geäußert wird, gut ist. Und nicht jede Kritik, die geäußert wird, gerechtfertigt ist. Aber es ist immens wichtig, dass diese Dinge zum kreativen Prozess dazugehören. Wenn man sich erst äußern darf, wenn man den „Beweis“ in Händen hält, dann stirbt die Kreativität. Es gibt diesen lustigen Satz, der in etwa (ich bitte um Mithilfe beim Finden des Original-Zitats) lautet „Wir erfinden erst etwas, wenn es die anderen bereits verkaufen“. Gemeint ist: Wir setzen in Deutschland so sehr auf Sicherheit, dass die Verrückten in Kalifornien währenddessen schon die nächste Disruption am Start haben. Eine Idee, eine Frage, oder eine Kritik kann der Anstoß sein für das nächste große Ding!

Wegbereiter für die Realisierung psychologischer Sicherheit waren neue Führungsphilosophien und neue Methoden wie Total Quality Management (TQM) und das Toyota Production System (TPS). Zunehmend konnten Mitarbeiter selbst Probleme analysieren und beheben, Kundenorientierung steigern, und Arbeitsprozesse selbst gestalten. Heute sind diese Ansätze weiterentwickelt und längst aus der Produktion in andere Bereiche gelangt. Die Software-Entwicklung hat Scrum und agile Methoden erfolgreich eingesetzt und auch diese Ansätze finden Verbreitung in anderen Bereichen.

Psychologische Sicherheit und Agilität

Agile Methoden wie Scrum funktionieren nur mit psychologischer Sicherheit. Psychologische Sicherheit ist Voraussetzung dafür, dass die Teammitglieder sich offen austauschen, den Aufgaben-Status kommunizieren, Feedback teilen, Sorgen teilen, Ideen und gesehene Chance teilen, Fehler ansprechen, und daraus lernen. Das ist nicht nur wichtig für das Projekt, sondern auch für das Lernen und Wachsen der Teammitglieder.

Ohne psychologische Sicherheit keine Agilität!

Das funktioniert am besten in einer Wechselwirkung: Psychologische Sicherheit ist Voraussetzung für agile Methoden. Gleichzeitig kann das Praktizieren von Scrum und Kanban die psychologische Sicherheit weiter erhöhen. Die agilen Werte und Prinzipien wie die Wertschätzung der Face-to-Face-Kommunikation, gegenseitiger Respekt, die Verantwortung als Team, die Transparenz, der interdisziplinäre Ansatz, und die klaren Rollen losgelöst von der Hierarchie unterstützen psychologische Sicherheit. Ebenso die agilen Methoden wie das inkrementelle Vorgehen, die regelmäßigen Meetings, Retrospektiven. Ohne psychologische Sicherheit keine Agilität!

Wie kann man psychologische Sicherheit herstellen? Ich habe dazu einen  gesonderten Beitrag geschrieben: Psychologische Sicherheit fördern – Maßnahmen, Methoden, konkrete Tipps. Freu dich auf viele konkrete Ideen, und einen radikalen Vorschlag!

Beitragsbild: deagreez (Adobe Stock)

9 Antworten auf „Psychologische Sicherheit – Voraussetzung für effektive Teams“

  1. Meine Meinung ist, in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist und umgekehrt.
    Psychologische Sicherheit/Unabhängigkeit ist essentiell und ist wichtig fuer den Erfolg in einem Unternehmen und sollte von diesem auch gefördert werden. Keiner möchte ein Befehlsempfänger sein oder werden!

  2. Gut zu wissen, dass der Zusammenhang zwischen psychologischer Sicherheit und Lernen und Leistung bereits bewiesen ist. Ich habe vor, mir zukünftig eine psychologische Beratung zu holen. Hoffentlich finde ich dafür diesen Monat einen erfahrenen Experten.

  3. Vielen Dank für diesen sehr ausführlichen und informativen Artikel!! Meiner Erfahrung nach ist die psychologische Sicherheit, nebst Zuverlässigkeit, klare Strukturen und Ziele, persönliches Anliegen und Sinnhaftigkeit (Wert) der Aufgabe, eines der 5 zentralen Attribute für ein erfolgreiches Team.

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